Das Drachenfest
Wir stehen im Stau. Je näher wir Berck-sur-Mer einer kleinen Stadt am Ärmelkanal kommen, umso mehr Fahrzeuge verstopfen die vielen Kreisverkehre und Straßen. Es ist zwar Samstag und Berck ist ein beliebter Badeort, dennoch kommen uns die Massen an Menschen, die Richtung Strand strömen etwas seltsam vor. Was ist hier eigentlich los? Die Robben, die man hier manchmal vom Strand aus beobachten kann, können derartige Völkerwanderungen nicht auslösen, oder doch?
Plötzlich taucht zwischen den Häusern am Himmel das erste riesige Flugobjekt in Form eines kunterbunten Rochens auf. Und schlagartig wird mir klar, was sich heute hier abspielt. Ich hab davon im Reiseführer gelesen. Einmal im Jahr im April findet in Berck das Drachenfest statt, bei dem tausende internationale Besucher ihre Flugdrachen an dem sieben Kilometer langen Strand steigen lassen. Und wir haben das Glück genau an diesen Tag hier anzukommen. Hammer!
In der Stadt herrscht das absolute Verkehrschaos, Autos parken überall auf den Gehsteigen, dafür laufen Familien mit Kinderwägen mitten auf der Straße. Alle haben nur ein Ziel – den Strand. Ein Vorankommen ist nur im Schritttempo möglich und wir stecken da mitten drin. Wenige Querstraßen vom Strand entfernt tut sich auf wundersame Weise direkt vor uns ein Parkplatz für unseren Bus auf und gleich darauf lassen wir uns vom Menschenstrom mitreißen. Zwischen den Gebäuden ist immer nur ein kleines Stück Himmel zu sehen, aber als wir auf der Promenade ankommen, verschlägt es uns den Atem.
Nicht nur, dass sich tausende Menschen hier versammelt haben, nein, so weit man sehen kann fliegen Drachen in allen Größen und Formen über dem gesamten Strand. Drachen, Teddybären, Kraken, Wale, Seepferdchen, Aladin, die Schlümpfe, Astronauten, Einhörner, Schiffe, Herzen, Haie und und und. Sie alle schweben über unseren Köpfen, manche an kurzer Leine, viele weit oben in der Luft. Es herrscht Jahrmarkt Stimmung. Musik dröhnt aus den Boxen zu der eine Gruppe mit Lenkdrachen eine Choreografie präsentiert. Vor dem Riesenrad, den Karussells, den Eisbuden und den Süßigkeitenständen stehen lange Schlagen. Eltern kaufen für ihre Kinder in den Souvenirshops eigene Drachen, um sie auch gleich steigen zu lassen. Wir mischen uns unter die Leute und schlendern den Strand entlang. Welch ein geniales Gefühl, den Sand unter unseren Füßen, den Wind in den Haaren, den Geruch des Meeres (und so manch einer Sonnencreme) in der Nase und den vielen Drachen über uns, die im Winde flattern. Auch wenn ich mir das Wiedersehen mit dem Meer etwas anders vorgestellt habe, die Robben und alles andere sind inmitten dieses Spektakels vorerst vergessen. Alles reiner Zufall, aber ein absolut geniales Erlebnis.
Erinnerungen an Me(e)hr
Erst nach zwei Stunden Trubel wird mir dann der Rückzug recht. Und so begeben wir uns auf den Strandabschnitt im Süden, dort wo an anderen Tagen vermutlich die Seehunde liegen. Heute herrscht auch hier viel Andrang und ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass sich die Meeressäuger auch nur in der Nähe befinden. Aber falsch gedacht. Von Zeit zu Zeit taucht ein Robbenkopf in einiger Entfernung aus dem Wasser auf und es scheint, als würden sie fragend zu uns Menschen herüberschauen und sich darüber wundern, warum heute so viele der Zweibeiner an ihrem Ufer unterwegs sind. Ich versuche einige Fotoaufnahmen zu machen, aber für die große Entfernung ist mein Reise-Zoom-Objektiv leider nicht ausreichend.
Dennoch das Ausschau halten hat mich sofort wieder in den Bann gezogen und mich viele Jahre zurückversetzt, in meine Studienzeit. Die Erinnerungen an drei Monate La Gomera überfielen mich wie eine riesige Welle. An die unvergessliche Zeit, die ich auf den Whalewatching Booten verbracht habe und jeden Tag meinen Blick viele Stunden über die Meeresoberfläche schweifen lies, in der Hoffnung dass ich irgendwo Rückenflossen von Delphinen oder Walen auftauchen sehe. Und sofort bin ich wieder in dem selben Modus wie damals, in dem Zeit und Raum völlig an Bedeutung verlieren. Irgendwann dringt Harry’s Stimme doch zu mir durch, die meint, es sei an der Zeit wieder zurück zu gehen und uns einen Platz zum Übernachten zu suchen. Er hat natürlich recht und erst jetzt merke ich, wie sehr mich der Wind ausgekühlt hat.
Weit fahren wir heute nicht mehr. Etwa 45 Kilometer südlich von Berck befindet sich das Besucherzentrum Maison de la Baie de Somme. Dieses stellt einige kostenlose Wohnmobilparkplätze zur Verfügung, die mitten in der Natur liegen. Hier fühlen wir uns auf Anhieb wohl, genießen den restlichen Abend und lassen die Eindrücke des Tages Revue passieren. Bei meinen Recherchen für die Unternehmungen des nächsten Tages entdecke ich im Internet, dass es nicht weit von unserem Schlafplatz entfernt eine weitere Möglichkeit gibt, Robben zu beobachten. Diese Chance möchten wir natürlich auch noch ergreifen. Glücklich über das bereits erlebte, schlafe ich mit einer großen Portion Erwartung und Vorfreude auf den nächsten Tag mit den Naturgeräuschen von Bach und Feldern ein.
Auf dem Trockenen
Und so lernen wir auch die Region um das Mündungsdelta der Somme näher kennen. Die von den Gezeitenunterschied geprägte Landschaft mit ihren Salzwiesen und den bei Ebbe endlos weiten Sandflächen betrachten wir am Cap Hornu nur kurz bevor wir uns auf den Weg zum Pointe du Hourdel machen. Ich muss lauthals auflachen, als ich die Schiffe im Hafen wie auf einer Schnur aufgefädelt auf dem Trocken liegen sehe. Ein seltsames Bild. Der ganze Ort ist erneut sehr touristisch und heute am Sonntag auch schon sehr belebt. Wir folgen den Schildern „Parking Les Dunes“, die uns etwas außerhalb des Ortes führen. Zwei Euro pro Stunde für das Abstellen eines Fahrzeuges kommt uns dann aber doch etwas überteuert vor.
Hier geht es zu all unseren Highlights aus den zwei Regionen Grand Est und Hauts-de-France, mit vielen Details und Infos für deine eigene Reiseplanung.
Ich bin Iris, Gründerin von Travel to Find. Hier dreht sich alles um das Unterwegs-Sein. Um Reisen voller unvergesslicher Momente, die man nicht suchen muss, sondern einfach findet. Und um das Leben selbst, das uns zustößt, während wir uns etwas völlig anderes vorgenommen haben.
Wie das Leben so spielt
Als wir schon wieder weiterfahren möchten, spricht mich eine Dame auf französisch an. Ich verstehe wieder mal kein Wort und gebe ihr das auch zu verstehen. Sie redet sofort in gutem Englisch weiter und erklärt mir, dass sie ein Parkticket hat, das noch für eine Stunde gültig ist und sie es mir schenken möchte. Voll Freude nehme ich dieses nette Geschenk an und schon nach wenigen Minuten stehen Harry und ich am Strand von Hourdel und bestaunen den riesigen Bauklotz, der wie achtlos hingeworfen halb im Sand steckt. „Le Blockhaus“ wird dieser Betonbunker genannt und ist ein Überbleibsel aus dem 2. Weltkrieg.
Von dort aus lasse ich meinen Blick über die weiten Sandflächen schweifen, die von Meerwasser teilweise durchzogen sind. Dabei sehe ich weit entfernt Bewegungen auf einer Sandbank und durch mein Objektiv glaube ich Robben zu erkennen. Die sind schon richtig weit weg, aber kurzentschlossen ziehe ich die Schuhe aus und stapfe einfach in die Richtung los. Harry muss zusehen, dass er mit meinem von Erwartung beschwingten Schritt mithalten kann. Wir laufen völlig alleine gute 15 Minuten über den feuchten Sand, der zu einer anderen Tageszeit eigentlich den Meeresboden darstellt. Und mit jedem Meter, den wir näher kommen, bin ich mehr und mehr davon überzeugt, dass es sich um die lang ersehnten Seehunde handelt. Ich kann mein Glück kaum glauben und mein Herz macht einen Salto bei dem Anblick. Unbedingt wollte ich sie in freier Wildbahn erleben und da sind sie jetzt.
Etwa 15 Seehunde liegen auf einer nicht all zu weit entfernten Sandbank gegenüber in der Sonne und in weiter Ferne entdecke ich noch viele andere, die aber nur mehr als sich bewegende Punkte im Sand zu erkennen sind. Wir nähern uns vorsichtig, denn einige von den Tieren haben uns schon im Blick und ich möchte sie nicht aufscheuchen. Durch Kamera und Fernglas beobachten wir die Gruppe lange und mein Wunsch nach einem dieser super teuren Teleobjektiven wird von Minute zu Minute größer. Auch wenn mein mitgebrachtes Objektiv nicht ideal für diese Situation ist, hab ich dennoch manchmal das Gefühl, dass sie mir durch die Kamera hindurch direkt in die Augen schauen und genau beobachten, was wir hier am Sandstrand gegenüber so vorhaben. Grundsätzlich sind sie alle aber sehr relaxed. Nur ein Tier robbt ins Wasser und schwimmt in unsere Richtung, vermutlich um die Lage zu sondieren, entscheidet aber rasch wieder zu den anderen zurückzukehren und das Nickerchen fortzusetzen, da von uns offensichtlich keine Gefahr ausgeht.
Die Schlafstellung dieser Tiere sieht total witzig und für uns absolut ungemütlich aus, scheint aber für sie der pure Genuss und vermutlich notwendig zu sein. Diese Seitenlage mit erhöhtem Kopf und Flossen scheint sie bei steigendem Wasserstand im Schlaf vor dem Ertrinken zu bewahren.
Apropos Gezeiten: Ich bin froh, dass Harry bei mir ist, denn alle Warnungen bezüglich des rasanten Tidenhubes in dieser Gegend sind bei dem Anblick der Meeressäuger völlig aus meinem Hirn verschwunden. Harry hingegen zeichnet eine Linie in gewisser Entfernung zur jetzigen Wasserlinie in den Sand und beobachtet, wie das Meer näher rückt. Ich bin ausschließlich auf die Tiere fokussiert und komme aus dem Schwärmen gar nicht mehr raus. Wir ganz alleine mit den Robben…. unglaublich!
Als es an der Zeit ist, kann mich Harry kaum dazu bewegen wieder in Richtung Parkplatz zu gehen. Schweren Herzens kehre ich der kleinen Gruppe den Rücken zu und bedanke mich im Stillen für dieses Erlebnis und dafür, dass sie nicht doch entschieden haben zu flüchten, weil ein Mensch mit lustigen Haaren so nahe an sie ran gegangen ist, um von diesen unglaublichen Momenten Erinnerungsstücke in Form von Fotos mitzunehmen.
Und das alles war nur möglich, weil uns eine nette Dame ihr Parkticket überlassen hat. Wie genial ist das denn?!!! Genau das ist Travel to Find für mich. Reisen, um durch Zufall in Situationen zu stolpern, unvergessliche Momente zu finden und sie für immer im Herzen aufzubewahren.
Und so geht es weiter
Orte an denen Geschichte geschrieben wurde. Im dritten Teil unseres Roadtrips durch Frankreich tauchen wir entlang der Küste der Normandie in die Geschehnisse des 2. Weltkrieges ein.